Johanniter auf den Philippinen: “Es war die längste Nacht unseres Lebens”

Kurz vor Weihnachten zog Taifun Rai über die Philippinen und hinterließ im Projektgebiet der Johanniter eine Schneise der Verwüstung. Auch Mitarbeitende unseres Johanniter-Büros in Cebu waren persönlich betroffen. Hier erzählt Arnie Najera eindrücklich, wie er den Sturm mit seiner Familie erlebt hat und wie er trotz der persönlichen Betroffenheit seinen Job als Helfer so gut wie möglich wahrnahm.

Taifun RAI hinterließ am 16. Dezember 2021 auf den Philippinen eine Schneise der Verwüstung.

Ich hatte in meinem Leben schon viele Stürme überstanden, manche wütender als andere. Ich habe die Gnadenlosigkeit der Natur hinter Betonmauern und hinter Fernsehbildschirmen miterlebt. Ich hatte von Geschichten gehört, in denen Häuser ausgelöscht und Leben in Schutt und Asche gelegt wurden. Bis zu dieser Nacht waren es immer nur Geschichten, die nur in kurzen Stromausfällen und langsameren Internetgeschwindigkeiten spürbar waren.

Am 16. Dezember 2021 gab es keine Radios oder Fernsehbildschirme, hinter denen man sich hätte verstecken können. Es gab nicht einmal ein Mobilfunksignal, das stark genug war, um Hilfe zu rufen, wenn das Schlimmste eintreten würde. Wir hatten kaum ein Dach, unter dem wir uns für die meiste Zeit der Nacht verstecken konnten.

Ein Haus wird zur Arche

Ein paar Stunden zuvor wäre es vielleicht noch ein belustigender Anblick gewesen: Fünf Menschen, die für eine Nacht mit all ihren Haus- und Nutztieren in einem Haus zusammengepfercht waren. Unser Haus als unsere eigene kleine Arche. Ein etwas unfairer Vergleich, da Noahs Arche vierzig Tage und Nächte mit gnadenlosem Regen überdauerte. Unsere Arche begann schon nach zwei Stunden auseinanderzufallen.

Vielleicht war es arrogant von uns zu glauben, dass wir einen Taifun RAI der Kategorie 5 mit kaum mehr als klappernden Fenstern und undichten Zimmerdecken überstehen würden. Vor neun Jahren hatten wir Taifun HAIYAN gut überstanden, versteckt in einem anderen Teil der Stadt, wo wir den Regen hinter den Fenstern beobachteten. Vor dreißig Jahren überlebten wir Taifun MIKE, der 1990 mit Windgeschwindigkeiten von 280 km/h direkt auf Cebu traf. RAI war doch nur ein weiterer Sturm, den es zu überstehen galt; Warnsignale hin oder her.

Alptraumhafte Symphonie eines Sturms

Arnie und seine Familie verbrachten Stunden der Angst unter der Treppe ihres Hauses in Cebu.

Es war 20:40 Uhr, als die ersten Decken herunterkamen. Die Kinder schrien drinnen, während der Wind vor unseren Fenstern weiter heulte. Schließlich riss der Sturm auch diese mit. Fensterflügel flogen aus den Rahmen, Dächer aus ihren Halterungen. Der Geruch von Regen und Trümmern war nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Das heftige Schlagen unseres Daches (oder dessen, was davon übrig war) vereinte sich mit dem der Nachbarn zu einer alptraumhaften Symphonie.

Wir versteckten uns den Rest der Nacht unter unserer Treppe. Fünf Menschen, zwei Hunde, acht Welpen und ein Vogel. Es war der sicherste Ort in der Arche, doch niemand schlief in dieser Nacht ruhig. Bei jedem Krachen draußen fragten wir uns, was es dieses Mal gewesen sein könnte. Noch ein Stück von unserem Dach? Ein weiteres Stück vom Nachbarhaus? Das Auto? Die ganze Nacht über haben wir Wetten abgeschlossen, von denen wir hofften, dass wir sie nicht gewinnen würden. 

Für eine Familie, die seit einem Jahr nicht mehr in der Kirche gewesen war, war es eine Nacht des Gebets. Das war alles, was wir tun konnten. Beten und staunen.

“Klimawandel, Papa. Klimawandel!”

Dach statt Auto in der Auffahrt: Die Windgeschwindigkeiten von Taifun RAI waren enorm.

Es war die längste Nacht unseres Lebens, aber schließlich kam der Morgen und wir sahen das Chaos, das RAI hinterlassen hatte. Als hätte jemand die Kulissen eines Apokalypse-Films hier in unserer Nachbarschaft aufgebaut. Drähte zogen sich über die Straße. Glas und andere Trümmer lagen auf dem Boden herum. Ein komplettes fremdes Giebeldach lag direkt in unserer Einfahrt, wo sonst das Auto stand. Überall umgestürzte Strommasten und umgestürzte Bäume. 

Meine Frau und ich dachten laut darüber nach, dass Taifune vor 30 oder 40 Jahren nicht so stark waren und dass Cebu aufgrund seiner Lage nur selten solche Zerstörungen erlebt.  Worauf meine Kinder im Chor antworteten: “Klimawandel, Papa, Klimawandel".

Unterstützung von den Johannitern

Die Tage nach der Katastrophe waren herausfordernd. Unsere Familie musste sich nicht nur um das zerstörte Dach kümmern, sondern auch um die Wasser- und Lebensmittelversorgung. Mein Versuch, in die Stadt zu kommen, endete schon in unserer Dorfeinfahrt mit ihrer unpassierbaren Straße. Aber wir hatten doch keine Lebensmittel und kein Wasser! Mit unserem wenigen Bargeld konnten wir nichts kaufen, da die Menschen angewiesen wurden, in ihren Häusern zu bleiben. So lebten wir am 17. Dezember den ganzen Tag von Brot und wenig Wasser. 

Danach began das große Aufräumen. Von den Johannitern erhielten wir einen schnellen Gehaltsvorschuss, um die wichtigsten Reparaturen umsetzen und bezahlen zu können. Mir wurde zudem ein Darlehen gewährt, dass ich die kommenden 12 Monate langsam abzahlen kann. Dafür bin ich dankbar und mir ist damit eine Last von den Schultern gefallen.

Dennoch war Weihnachten kein Fest, sondern Trauer. Wir haben geweint. Es war das einsamste Weihnachten für die Familie, aber wir haben unseren Kindern erklärt, dass das besser ist als ein verlorenes Familienmitglied. Wir sollten dankbar sein, dass wir noch alle am Leben sind. Weihnachten und Neujahr waren jeder Hinsicht dunkel - im übertragenen Sinne und wortwörtlich. Der Strom kam erst in der zweiten Januarwoche wieder.

So viel wie möglich helfen

Gemeinsam mit der Partnerorganisation HIPPE wurden 1800 Familien unterstützt.

Aufgrund der Stärke und der Zugbahn wusste ich damals sofort, dass RAI Auswirkungen auf eines unserer laufenden Projekte in Mindanao haben würde. Was ist mit dem Partner und den Gemeinden, in denen sie arbeiten? Ich habe versucht, so schnell wie möglich Kontakt aufzunehmen, aber der Empfang war schwierig.

Nachdem ich meine Kollegin Nenen darüber informiert hatte, dass wir überlebt haben, erfuhr ich in den folgenden Tagen von ihr, dass Nothilfemaßnahmen mit unserem Partner in Mindanao vorbereitet würden. Ich half dabei und versuchte gleichzeitig, mich um die Bedürfnisse meiner Familie zu kümmern. Ich versuchte, die Familie intakt und bei Verstand zu halten, sie davon zu überzeugen, dass ich eine Partnerorganisation dabei unterstützen müsse, Nothilfe in verwüsteten Gemeinden zu leisten. Das war schwierig. Ich kämpfte mit unseren eigenen Ressourcen und damit, das gerade erlebte Trauma zu überwinden. Deshalb habe ich versucht, so viel wie möglich zu helfen. 

Das ganze Dorf, einschließlich uns, hat diesen Taifun unterschätzt. Eine große Lektion, die wir aus dieser ganzen Erfahrung gelernt haben, ist, auf Katastrophen wie diese vorbereitet zu sein. 

Leid verhindern, bevor es geschieht

Die Katastrophenvorsorge ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit.